Hinter der Startlinie haben sich rund 14 000 LäuferInnen eingereiht. Die meisten unter ihnen sehen den bevorstehenden Lauf als sportliche Herausforderung, auf die sie monate-, vielleicht sogar jahrelang hingearbeitet haben, um an Tag X ihre individuellen Grenzen zu verschieben. Oscar und sein Sohn David befinden sich ebenfalls mitten im Getümmel. Sie blicken allerdings aus anderer Perspektive auf die 42,195 Kilometer lange Laufstrecke. „Schon vor langer Zeit haben wir aufgehört, Wettkämpfe als sportliche Herausforderungen
anzusehen. Für uns sind es Abenteuer. Denn irgendwann wurde uns klar, dass man mit Disziplin, einer Portion Kraft und vor allem viel Herz alle seine Ziele erreichen kann“, sagt Vater Oscar mit einem Strahlen im Gesicht, das sofort ansteckt. Der Startschuss fällt, die Menge setzt sich in Bewegung. Oscars und Davids Art der Fortbewegung ist eine andere: David kann nicht laufen. Er leidet an Cerebralparese und ist sein Leben lang auf einen Rollstuhl angewiesen. Da sich Vater und Sohn jedoch von nichts und niemand aufhalten lassen, schiebt Oscar David die gesamte Marathondistanz vor sich her. Für Zuschauende am Streckenrand mag dies eine ganz besondere sportliche Leistung, ein Kraftakt sein. Für den Vater ist es schlichtweg eine Selbstverständlichkeit aus grenzenloser Liebe zu seinem Sohn, der die Sportevents und Wettkämpfe so mag. Denn noch vor einiger Zeit war Oscar kein besonders sportlicher Typ. Erst nachdem er David spontan zu einem 10-Kilometer-Lauf mitgenommen hatte und dieser von der Geschwindigkeit in seinem Wagen sofort Feuer und Flamme gewesen war, begann er mit dem regelmäßigen Training. Bald wurden die Trainingsstunden mehr und intensiver, die gemeinsamen sportlichen Errungenschaften immer höher: Marathons, Triathlons, es scheint kein Ausdauersportevent zu geben, das Oscar nicht in Angriff nimmt. Und doch immer zusammen mit Sohn David in seinem speziellen Rollstuhl oder einem Boot, das der Vater im Wasser hinter sich herzieht.
Ob es noch irgendetwas gibt, das die beiden unbedingt erreichen wollen? „Es gibt keine Schallmauer oder eine bestimmte Distanz, sondern wir wollen ein Bewusstsein schaffen. Ein Bewusstsein für Liebe, Gemeinschaft und Zusammenhalt. Wir möchten als leidenschaftliche Sportler gesehen werden, aber vor allem als Menschen, die für Inklusion stehen“, sagt Oscar. Für dieses Ziel haben Davids Eltern zusammen mit ihm und seiner Schwester vor zweieinhalb Jahren der kolumbianischen Heimat den Rücken gekehrt und sind ins Rhein-Main-Gebiet gezogen. „Es war eine große Entscheidung, ein neues Leben zu beginnen. Aber wir wussten, dass wir nicht allein sein würden“, erzählt Oscar. „Unsere Freunde vom Verein Eintracht Frankfurt Triathlon standen uns von Anfang an zur Seite und gemeinsam haben wir hier einen neuen Weg gefunden.“ Durch die unermüdliche Arbeit und viele helfende Hände aus Frankfurt gelang es, Sponsoren für Material und Wettkampfreisen zu finden. Und somit verwundert es nicht, dass Oscars und Davids Projekt für das Jahr 2024, insgesamt vier gemeinsame Marathons zu absolvieren, beim Mainova Frankfurt Marathon seinen krönenden Abschluss fand. „Der Frankfurt Marathon bedeutet uns besonders viel. Wir lieben ihn für seine großartige Organisation, die vielen freiwilligen Helfer und natürlich, weil wir wissen, dass an der Strecke unsere Freunde, meine Frau und meine Tochter auf uns warten“, so Oscar.
Tatsächlich jubeln bei Kilometer 35 etliche Vereinsmitglieder von Eintracht Frankfurt sowie Oscars und Davids Familie den beiden auf den letzten Metern frenetisch zu. Gleich ist es geschafft, die Festhalle ist nicht mehr weit. „Dieser Moment, gemeinsam anzukommen und die Unterstützung zu spüren, ist einfach unbezahlbar“, berichtet Oscar und strahlt dabei wieder so übers ganze Gesicht, dass man gar nicht anders kann, als sich von seiner Lebensfreude mitreißen zu lassen, die ihn dazu bringt, sich zu immer neuen Abenteuern mit seinem Sohn aufzumachen. „Meine größte Motivation ist meine Familie – insbesondere mein Sohn, der ein echtes Geschenk Gottes für uns ist“, sagt er noch. „Auch die Menschen, die uns überall zujubeln und die Eltern von besonderen Kindern motivieren mich. Auch wenn sie vielleicht nicht dasselbe tun können wie wir, tragen wir sie in unseren Herzen mit.“