Es geht vier Mal um die Kurve die Treppen rauf, dann ist man da – und spürt sofort: Der Blaue Saal in der Frankfurter Festhalle ist ein Ort für besondere Anlässe. Dunkelblaue Karo-Fliesen und hellblaue Wände, der Raum trägt seinen Namen nicht ohne Grund. Pfarrer Peter Noss verteilt gemeinsam mit seiner katholischen Kollegin Gabrielle Braun ein paar Armbändchen und Flyer mit der Aufschrift „Miteinander läuft’s“. Das ist das Motto der interreligiösen Staffeln 2024. Ob Katholiken, Protestanten oder Hindus: Alle laufen gemeinsam den T. Rowe Price Staffelmarathon und gemeinsam in die glitzernde Festhalle ein.
Der ökumenische Gottesdienst am Vorabend des großen Laufs ist wie jedes Jahr gut besucht, für viele ist er ein liebgewonnenes Ritual. Etwa 100 Läufer haben sich eingefunden. Der Gottesdienst richtet sich an alle Menschen, ganz egal ob religiös, atheistisch oder agnostisch. Ziel sei es nicht, Menschen zu bekehren, sondern ihnen etwas spirituelle Kraft für die Herausforderung des Marathons zu spenden, ihnen ein Stück seelische Kraft für ihre mehr als 42 Kilometer lange Reise mitzugeben. Auf einem länglichen Metalltisch ist ein kleiner Altar aufgebaut, weißes Tischtuch, Kerzen, Blumen und Kreuz. In Rot, Gelb und Grün vervollständigt er die Farbpalette des Blauen Saals, ein paar Blümchenmuster sind auch noch dabei.
Als Pfarrer Noss fragt, wer alles aus Frankfurt komme, hebt die Hälfte der Menschen im Saal die Hand. Heimspiel für den gebürtigen Hessen. Für keinen Menschen im Raum ist es der erste Gottesdienst, für zwei Läufer ist es aber der erste Marathon überhaupt. Als die Gebetslieder angestimmt werden, greifen die singenden Stimmen ineinander. Die Kraft der Gemeinschaft wird im ganzen Saal spürbar. In seiner Predigt spricht der Theologie-Professor Thomas Weißer von Marathon als Akt des Friedensbekenntnisses, von einer „Demo für den Frieden“. Ginge es nicht um das gemeinsame Laufen, um die Stimmung, um das Miteinander und würde der Marathon nur aus dem individuellen Lauf als solchen bestehen, „dann könnten ja auch alle einfach daheim bei sich laufen“, sagt Thomas Weißer. Aber dann hätte man die besondere 41. Ausgabe des Mainova Frankfurt Marathon verpasst.
– – –
Predigt zum Ökumenischen Gottesdienst
Marathon Frankfurt – 26.10.2024
Thomas Laubach
Liebe Läuferinnen, liebe Läufer,
es ist wirklich eine Ehre für mich, hier heute sprechen zu dürfen. Denn: Die 42,195 Kilometer habe ich bisher nicht gepackt. Ich kann nur ein paar Halbmarathons vorweisen. Umso mehr Achtung vor Ihnen allen hier. Dass sie morgen zum Lauf antreten.
Laufen ist für mich manchmal Anstrengung, manchmal Notwendigkeit – und manchmal Meditation. Wenn ich in Gang komme, kaum noch auf den Weg achten muss: Dann machen sich die Gedanken selbstständig und gehen ihre eigenen Umwege. Deswegen laufe ich auch gerne allein.
Wie vor ein paar Tagen. Aber kaum bin ich unterwegs, da höre ich ein merkwürdiges Geräusch. Ein Schlappen. Kein Laufschuh.
Das Geräusch kommt schnell näher. Ich warte, dass ich überholt werde. Aber die Schritte passen sich meinen an. Ich sehe zur Seite. Da läuft tatsächlich jemand in Sandalen. Dann geht mein Blick höher. Und ich kippe selber aus meinen. Ist tatsächlich Jesus. Der läuft einfach neben mir her.
Ich habs bisher noch keinem erzählt. Da wird man ja schnell für verrückt erklärt. Aber das war Jesus. Sandalen, langes Gewand. Bart natürlich. Wie man ihn so kennt.
„Schalom“, sagt er. „Alles klar?“ Und ich höre ganz erleichtert, dass er auch ein bisschen schwer atmet. Wäre ja noch schöner. Kann der Typ nicht nur übers Wasser gehen, sondern auch noch ohne Anstrengung morgens joggen.
Ich schlucke meine Überraschung runter. Nicke. „Und du, Jesus?“ sage ich. „Nochmal für dreißig Jahre hier oder nur eine Stippvisite?“ Jesus grinst mich an. „Du läufst ganz schön schnell“, sage ich. „Dafür, was du alles durchgemacht hast.“
„Na ja“, sagt er, „ich hab da oben immer ein paar Engel, die machen die Hasen für mich. Dann stimmt die Pace.“
Ich weiter: „Und, was machst du hier?“
„Gott stellt meine Füße auf weiten Raum“, sagt Jesus. „Psalm 31, Vers 9.“
War ja klar, denke ich bei mir, dass Jesus bibelfest ist. Ist ja quasi zur Hälfte seine Biographie. Ich werde langsamer und sehe: Jesus hat einen eleganten Laufstil. Ich frag ein bisschen neidisch: „Wo hast du denn so Laufen gelernt?“
„Macht der Glaube“, sagt er. „In Sprüche 4,26-27 heißt es: »Alle deine Wege sollen beständig sein. Du sollst nicht rechts oder links abbiegen. Halte deine Schritte vom Bösen fern.« Probier‘s doch mal aus.“
Ich imitiere ein bisschen ungelenk seine Art und tatsächlich: Irgendwie läufts geschmeidiger.
Wir laufen ein Stück. „Ich will nicht nerven“, sage ich, „aber was machst du hier? Gibt doch genug andere Orte, an denen du die Dinge ins Laufen bringen könntest.“
„An was denkst du“, fragt er.
Ich stottere los. „Ja, also, äh.“
Jesus berührt kurz meinen Arm. „Atem und Schritte“, sagt er. „Rhythmus. Nicht zu viel wollen.“
Mein Herzschlag beruhigt sich. Schritt für Schritt sortieren sich meine Gedanken.
„Sollen wir in deiner Heimat anfangen“, frage ich. „Die ist schon lange ein Pulverfass. Dann der brutale Überfall letztes Jahr auf ein Musikfestival. Geiselnahme. Und dann folgt bis heute Bomben und Zerstörung. Verzweifelte Menschen, Verletzte, Tote auf allen Seiten. Und kein Frieden in Sicht.“
„Das war schon damals so“, sagt er. „Nur da waren es die Römer. Und ich weiß, wovon ich rede.“ Jesus läuft ein Stück. Wir schweigen. „Ich bin da auch zu Tode gekommen“, sagt er leise.
„Und“, frage ich, „hat das was geändert?“
Jesus antworte: „Zumindest gibt es bis heute Menschen, die meiner Botschaft folgen.“
„Und die wäre?“ frage ich.
„Kannst du bei Markus nachlesen“, sagt er. „Sein Evangelium fängt mit dem Propheten Jesaja an: »Bahnt für Gott einen Weg.« (Mk 1,3/ Jes 40,3) Und meine ersten Worte bei ihm heißen: »Kehrt zum Leben um!« (Mk 1,15) Menschen sollen leben. Dafür habe ich gelebt. Und dafür muss man neue Wege gehen. Laufen. Rennen manchmal. Und Umkehren. Umdrehen. Der Weg in den Krieg passt da nicht.“
Ich bin ein bisschen bockig. „Trotzdem“, sage ich, „ich kapier die ganze Kriegslogik nicht. Putin, das ist auch so ein Fall.“
Jesus will was sagen, aber jetzt läufts bei mir. „Weißt du“, sage ich, „Bibel kann ich auch. Jesaja 9,4 zum Beispiel. »Verbrannt wird jeder Stiefel, mit dem die Soldaten dröhnend marschierten. Ins Feuer geworfen wird jeder Mantel, der im Krieg mit Blut getränkt wurde.« Zwei Sätze, die immer noch nicht wahr sind. Soldatenstiefel und -mäntel gibt’s in den Schützengräben in der Ostukraine. In Israel und im Libanon, in Kenia, auf Sri Lanka, in Äthiopien, in Kolumbien.“
„Punkt für dich“, sagt Jesus. „Aber du musst zugeben: Überall sind es Menschen, die Kriege führen, keine Götter.“
Ich laufe schweigend ein paar Schritte. „Du meinst“, sage ich, „es sind auch die Menschen, die den Krieg beenden können. Keine Götter?“
„Ja“, sagt Jesus.
„Aber wie geht das?“ frage ich.
„Das ist wie beim Training für einen Marathon“, sagt Jesus. „Es gibt ein paar allgemeine, gute Pläne und Strategien. Aber ob das im konkreten Fall funktioniert, das muss man rauskriegen.“
„Keine Rezepte also?“ frage ich. „Kein: Wenn ich gewählt werde, mache ich mit Krieg und Verzweiflung in 24 Stunden Schluss?“
„Das ist ein Marathon“, sagt Jesus, „kein Sprint. Und schon gar keiner für Untrainierte oder Angeber. Und eine Abkürzung gibt’s auch nicht.“
„Ok“, sage ich, „politisch heißt das: Wirtschaftlicher Druck. Unterstützung der Friedensprozesse. Waffen an die Angegriffenen liefern. Diplomatie probieren. Die Angreifer müssen kapieren, dass sich ihr Krieg nicht lohnt.“
„Ja“, sagt Jesus, „das braucht Zeit. Allerdings muss ich zugeben: Diplomatie und Politik, die waren nicht so mein Ding. Ich bin zu Menschen gegangen. Sie sollten erfahren, was Menschwerdung heißt. Ich hab sie angefasst, umarmt, berührt, mit ihnen gegessen, bin mit ihnen gegangen, gelaufen. Ich wollte, dass sie sich von ihren Dämonen verabschieden, von Bindungen trennen, die sie klein machen, von unheilen Fokussierungen auf Geld oder Macht befreien, dass sie menschenfeindliche Normen und Verbote ignorieren.“
„Friedlicher ist die Welt aber trotzdem nicht geworden“, sage ich.
„Sehe ich nicht so“, sagt Jesus. „Für die meisten ist heute klar, Krieg ist die falsche Antwort, ist immer ungerecht und zerstört nur. Das ist ein ziemlich neuer Gedanke.“
„Und trotzdem gibt’s immer noch Krieg“, sage ich. „Und der trifft vor allem Menschen, die da gar nichts für können. Auf allen Seiten.“
„Ja“, sagt Jesu, „Abel und Kain. Immer da, wo sich Menschen ganz nah sind, da ist der Mord nicht weit.“
„Klingt eher wie eine Krimi-Weisheit“, sage ich.
„Nee“, Jesus schüttelt den Kopf, „allgemeine Menschenkenntnis. Das weiß ja schon die Bibel. Herodes, der aus purer Angst ein Königskind umbringen will. Josef, der von seinen Brüdern gehasst und entsorgt wird. Saul, der David fürchtet und ihn verfolgen und töten will.“
„Das willst du mir sagen?“ frage ich. „Krieg und Tod und Elend sind unvermeidbar?“
„Nein“, sagt Jesus, „aber es läuft nur anders, wenn Menschen sich aufmachen und die Richtung wechseln. Dahin gehen, wo der andere hingeht. In die Richtung gucken, in die der andere guckt.“
Jesus sieht zu mir rüber, ein Grinsen zieht über sein Gesicht. Er zeigt auf meine Füße. „Das ist auch gar nicht so weit weg vom Laufen.“
„Hä“, sage ich.
„Beim Marathon, da laufen alle in die gleiche Richtung. Jede und jeder hat ein eigenes Ziel. Ankommen, Bestzeit knacken, mit dem Team ins Ziel eintrudeln, sich selbst was beweisen. Aber alle gucken in Richtung Ziel. Für alle ist das Ziel gleich. Ganz egal, wann und wie man ankommt.“
„Ich soll also mit dem Strom mitschwimmen? Und dann wird’s schon friedlich?“ Ich schüttele den Kopf. Jesus schweigt.
Wir laufen. Ich passe nicht auf, stolpere über den aufgerissenen Asphalt. Ich greife in die Luft, dann finden meine Füße wieder Halt.
„Das ist mein Ansatz“, sagt Jesus. Er zeigt auf den Weg. „Laufen, stolpern, sich auffangen, hoffentlich nicht stürzen, wieder Tempo aufnehmen. Laufen ist wie Leben, sagt Jesus. Wer läuft, der erfährt was über sich. Über das, was einen antreibt. Und was einen hemmt. Was einen aufgeben lässt. Und was einen Grenzen überschreiten lässt. Laufen lässt dich erfahren, dass du ein begrenzter Mensch bist. Wenn du das kapierst, dann kannst du mit den Träumen von Macht und »Wir sind besser als die« und »Ich sag dir, wo‘s lang geht«, nicht mehr viel anfangen.“
Jesus kommt richtig in Fahrt. Ich hechle hinterher.
„Laufen“, sagt er, „das ist Training für den Frieden. Da gibt’s Anfangen und Selbstüberwindung, manchmal auch Leichtigkeit. Da gibt’s Wind und Wetter. Du musst Geduld haben. Immer wieder. Ausdauer trainieren. Immer wieder. Und Pause machen, warten können. Du musst dem Mann mit dem Hammer ins Gesicht sehen. Tote Punkte überwinden. Die Verpflegungsstation gut erwischen.“
„Und was hat das jetzt mit Krieg und Gewalt und Frieden zu tun?“ frage ich. Jesus guckt mich von der Seite an. Ich sehe hoch und merke plötzlich, dass wir schon länger meine übliche Laufstrecke verlassen haben.
„Ich mag wie du den Propheten Jesaja“, sagt Jesus. „Der hat in Kapitel 52, Vers 7 geschrieben: »Wie schön sind auf den Bergen die Füße der Menschen, die Freude verkünden, die Frieden ansagen, Gutes verkünden, Rettung ansagen, die zu Zion sprechen: Deine Gottheit regiert.«
„Beim Laufen erkennen, dass man selbst nicht Gott ist und Frieden verkündigen, das ist es?“ Ich gucke ihn an.
„Ein Anfang“, sagt Jesus. „Kannst du bei jedem Lauf merken. Dass du nicht der Allergrößte bist. Und es heißt ja auch: Wer läuft, sündigt nicht.“
„Freie Interpretation“, sage ich.
„Laufen heißt, Frieden machen“, sagt Jesus. „Schritt für Schritt. Marathon, das ist ein Demo für den Frieden.“
Jetzt muss ich grinsen. „Das sagt du nur, weil ich in ein paar Tagen in Frankfurt predigen soll.“
Jesus grinst zurück. „Auch, sagt er. Aber ist es nicht so, dass alle, die morgen in Frankfurt oder wo auch immer laufen, dass die den Frieden verkünden? Dem Marschschritt eine Absage erteilen? 42 Kilometer lang sagen: Gewalt und Krieg haben hier keinen Platz. Alle zusammen.“
„Miteinander könnt‘s laufen“, sage ich.
„Eben“, sagt Jesus, „miteinander läufts. Das beendet nicht den Krieg. Nirgendwo. Aber ist ein Zeichen. Ein Zeichen gegen alle Kriege und Gewalt und Angst und Terror. Und vielleicht macht das ja auch der Hoffnung Beine, dass nur der Friede gewinnt. Niemals der Krieg.“
Dann biegt er einfach an der nächsten Gabelung ab. Ich sehe ihm nach, wie er den Hügel hinauffliegt. Muss wohl noch pünktlich zu seiner nächsten Bergpredigt kommen, denke ich. Und laufe mit einem Lächeln im Gesicht die letzten Schritte nach Hause. Lief gut heute, denke ich, so miteinander. Vielleicht packe ich ja doch noch eines Tages die 42,195 Kilometer. Für den Frieden.
Thomas Laubach (Weißer), Professor für Theologische Ethik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Liedtexter.